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Der Konflikt um Bergkarabach.

Am 13.10.2010 hat unsere früher Bundestagsabgeordnete Dr. Ute Finck-Krämer über den Konflikt um Bergkarabach referiert. Nachfolgend ihr Referat in Stichpunkten.

Geschichte: kompliziert, letztlich waren die heutigen Territorien beider Länder (wie Georgien und
die kleineren ethnischen Gruppen im Nordkaukasus) und angrenzende Gebiete in der heutigen
Türkei und dem heutigen Iran über Jahrhunderte Streitobjekt zwischen den Regionalmächten
Russland/Sowjetunion, Osmanisches Reich/Türkei und Persien/Iran. Gleichzeitig keine klaren
ethnischen, sprachlichen, religiösen Grenzen und buchstäblich -zig ethnische/sprachliche Gruppen.
Damit immer wieder Ethnisierung (und teilweise religiöse Instrumentalisierung) der Konflikte in
der Region. Historische Traumata auf allen Seiten, am stärksten bei den Armeniern durch den
Genozid 1915. Unterdrückung der Konflikte durch jeweilige Zentralmacht statt Konfliktbearbeitung
und konstruktive Lösungen.

Konkreter Konflikt: Begrenzter Autonomiestatus für Berg-Karabach innerhalb der Sowjetrepublik
(bei etwa drei Vierteln armenischer, einem Viertel aserischer Bevölkerung). Konflikt um
Ausweitung dieses Autonomiestatus ab 1987, also noch in der UdSSR. Vertreibungen von Aseries
aus Bergkarabach und Pogrome gegen Armenier 1988, Hochschaukeln von Vertreibungen und
Pogromen in den nächsten Jahren. Unabhängigkeitserklärung Bergkarabachs am 3.9.1991, dann
Eskalation auf beiden Seiten bis zum Krieg 1992-1994, der mit einem brüchigen Waffenstillstand
endete. Armenien hält seitdem Nachbargebiete von Bergkarabach besetzt, einige Hunderttausend
Menschen wurden vertrieben, die in Aserbaidschan bis heute nicht voll in die Gebiete, in denen sie
leben, integriert wurden (z.B. wählen sie nicht Abgeordnete für ihre heutigen Wohnorte, sondern für
die damaligen).

OSZE-Vermittlungsbemühungen seit 1994, Beispiel für „es ist nichts geklärt, solange nicht alles
geklärt ist“. Eckpunkte der Verhandlungsergebnisse der so genannten Minsker Gruppe (Vorsitz:
Frankreich, Russland und die USA) von 2007 mit leichten Änderungen in den Folgejahren
(„Madrid principles“):
Der Verhandlungsstand auf der diplomatischen Ebene wird seit Jahren von den »basic principles«
umrissen, auf die sich die Minsker OSZE-Gruppe bei einem Treffen in Madrid 2007 – mit leichten
Modifikationen auf nachfolgenden Zusammenkünften – geeinigt hat. Sie umfassen
• den Rückzug der armenischen Truppen aus der Umgebung Berg-Karabachs,
• einen Korridor zwischen Berg-Karabach und der Republik Armenien,
• die gesicherte und friedliche Rückkehr aller Vertriebenen an ihre Heimatorte,
• ein zukünftiges Referendum über den endgültigen Status Berg-Karabachs,
• einen Interim-Status für Berg-Karabach: Sicherheit und »self-governance« bis zur
Statusklärung,
• internationales Peacekeeping und Wiederaufbauhilfe.

Warum die nicht umgesetzt wurden (Zitat swp-Analyse Februar 2013):
„Es fehlen hier die Einbeziehung Berg-Karabachs als Partei in den Verhandlungsprozess, ein
Gewalt-verzichtsabkommen zwischen den Konfliktseiten und die verbale Abrüstung auf allen
Seiten. Zudem klammern die »basic principles« einige dringliche Aspekte vorläufig aus, zum
Beispiel den Zeitpunkt des Referendums oder die Zusammensetzung einer Peacekeeping-Mission.
Nach wie vor kollidieren die Interessen der Konfliktparteien in der Frage, in welcher Reihenfolge
die entscheidenden Schritte zur friedlichen Konfliktlösung getan werden sollen. Die
aserbaidschanische Seite bevorzugt ein stufenweises Vorgehen, das mit dem Abzug armenischer
Truppen aus den besetzten Gebieten zu beginnen habe. Die Gegenseite lehnt eine solche
Stufenlösung ab, da sie dem Selbstbestimmungs- und Sicherheitsinteresse Berg-Karabachs
zuwiderlaufe.“
Immer wieder Waffenstillstandsverletzungen bzw. Kriegshandlungen, z.B. 2016 und April 2020,
aktuell wieder. Die internationalen Experten gehen davon aus, dass Aserbaidschan die aktuellen
Kriegshandlungen begonnen hat.

Die 1992 eingesetzte Minsk Group entspricht nicht mehr der aktuellen welt- und regionalpolitischen
Situation. Frankreich als einer der drei Vorsitzenden ist eindeutig auf Seite Armeniens, die USA
spätestens unter Trump an einer Konfliktlösung im Kaukasus nicht mehr interessiert. Statt einer
Reihe einzelner EU-Staaten wäre die seit den Neunziger Jahren erweiterte und außenpolitisch
weiterentwickelte EU als Akteur geeigneter. Georgien fehlt, ist als Nachbarland aber wichtig. Iran
ebenso, weil er kein OSZE-Mitgliedsstaat ist. Andererseits ist die OSZE für Konflikte zwischen
Mitgliedsstaaten wichtig.

Zentraler Akteur in der Region ist Russland – aus beiden Ländern gibt es Gastarbeiter in Russland
und intensive Wirtschaftsbeziehungen. Beide Länder werden von Russland mit Waffen beliefert
(und gehören zu den Staaten der Welt, die den höchsten Anteil von Militärausgaben am BSP haben).
In Armenien gibt es einen russischen Militärstützpunkt, außerdem ist Armenien Mitglied in der von
Russland ins Leben gerufenen Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO) und in
der Eurasischen Wirtschaftsunion. Da Bergkarabach völkerrechtlich aber kein Teil Armeniens ist,
würde dieser Vertrag erst greifen, wenn Aserbaidschan das Gebiet Armeniens angreift. Bis 2012 gab
es auch in Aserbaidschan einen russischen Militärstützpunkt, der Vertrag wurde nicht verlängert.
In beiden Staaten gibt es so große Unterstützung für Maximalpositionen, dass die jeweiligen
Regierungen viel zu verlieren und nichts zu gewinnen haben, wenn sie sich um eine pragmatische
Lösung des Konflikts oder eine Umsetzung der Madrid-Prinzipien bemühen. Gegenseitige Vorwürfe
über Massaker und Kriegsverbrechen nähren hasserfüllte Narrative, die zunehmend auch über
Soziale Medien verbreitet werden und zur weiteren politischen Eskalation beitragen. Es gibt immer
wieder Versuche von Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, über zivilgesellschaftliche
Dialogprogramme, oft unter Einbeziehung von Menschen aus weiteren postsowjetischen
Konfliktgebieten (Georgien, Ukraine, Moldawien), zur Verständigung beizutragen.
Aserbaidschanische Teilnehmer*innen wurde in den letzten Jahren die Teilnahme an derartigen
Dialogen immer mehr erschwert (Reiseverbote, Verhaftungen nach Rückkehr). Die gewaltfreie
Protestbewegung in Armenien 2018 hat zwar einen ungeliebten und korrupten Premierminister
abgesetzt, hatte aber keine Auswirkungen auf die Sicht der großen Mehrheit auf Bergkarabach. Im
Gegenteil, der neue Premierminister Paschinjan ist ein noch unnachgiebigerer Hardliner als sein
Vorgänger Sargsjan mit extremer antitürkischer Rhetorik. Auch die große armenische Diaspora ist
eher Teil des Problems als der Lösung.
Rückblickend gesehen hat auch die sehr sorgfältig formulierte und auf das damalige deutsche
Verhalten bezogenen Bundestagsresolution von 2015 zum Genozid in Armenien im Jahr 1915
zumindest indirekt den Konflikt zwischen Armenien und der Türkei und damit indirekt den
Bergkarabachkonflikt eher verschärft als abgemildert.
2016 hat Russland seinen Einfluss auf beide Konfliktstaaten geltend gemacht, so dass nach einer
Woche wieder Waffenstillstand herrschte. Ebenso vermutlich im Juli diesen Jahres. Neu ist aktuell,
dass die Türkei nicht nur politisch und diplomatisch, sondern auch durch in Syrien angeworbene
Söldner (vermutlich um die 1000) militärisch auf der Seite Aserbaidschans eingreift. Das begrenzt
die Möglichkeiten Russlands, Druck auszuüben.
So wird die (vorübergehende) Waffenruhe, die am 10.10. für eine Bergung der Toten und einen
Austausch von Gefangenen in Kraft treten sollte, nicht eingehalten. Es ist aktuell völlig unklar, wie
es weitergehen könnte.
Handlungsmöglichkeiten für die EU und Deutschland, ggf. auch weitere Staaten, insbesondere aus
der OSZE:
➢ Beiden Seiten klar machen, dass ihre hasserfüllten Narrative nicht auf Gehör stoßen.
➢ JCPoA-ähnliches Format als Ergänzung der Minsk Group entwickeln (JCPoA war das
Nuklearabkommen mit dem Iran, das zwischen dem Iran, Deutschland/EU und den fünf
ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates ausgehandelt wurde) – auf jeden Fall Russland,
Türkei, Iran einbeziehen, EU, Georgien.
➢ Nach Erreichung eines echten Waffenstillstandes versuchen, den zivilgesellschaftlichen
Dialog wieder in Gang zu bringen (der aktuell durch den Hass auf beiden Seiten und das
Kriegsrecht in beiden Ländern unmöglich geworden ist).
➢ Humanitäre Hilfe stärken, Humanitäre Organisationen wie z.B. das IKRK unterstützen
➢ Mittelfristig Wiederaufbauhilfe für zivile Geschädigte – eventuell als gemeinsames Projekt
der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion
Zum Weiterlesen:
Interview mit dem Vertreter der FES im Kaukasus, Felix Hett:
https://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/das-zerstoerungspotential-ist-massiv-gewachsen-
4672/
Interview mit dem grünen Europaabgeordneten Sergey Lagodinsky im Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunk.de/konflikt-um-bergkarabach-russland-und-die-tuerkeimuessen.
694.de.html?dram:article_id=484842
Alexander Baunov von Carnegie Moskau zur Rolle Russlands (englisch):
https://carnegie.ru/commentary/82933
Arbeit der Minsk Group auf der Webseite der OSZE (englisch): https://www.osce.org/mg
…und wer wirklich tief einsteigen will in die Historie zwischen 1988 und 2013:
„Der Streit um Berg-Karabach“, swp-Studie, Februar 2013
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2013_S02_hlb_smk.pdf
Ute Finckh